Prof. Dr. Gunzelin Schmid Noerr: "Nähe und Distanz in professionsethischer Perspektive"

Nähe und Distanz stellen ein sich wechselseitig bedingendes Spannungsfeld dar, indem sich Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter bewegen und stets die Balance halten müssen. Einerseits ist es wichtig nah genug am Klienten zu sein, um Ihn zu erreichen. Andererseits ist Distanz notwendig, damit rationale und nicht von Affekten oder Mitleid bestimmte Entscheidungen getroffen werden können.

  • Prof. Dr. Gunzelin Schmid Noerr. Foto: Melissa Gundlach

  • Die Studentinnen Vera Henderikx, Simone Ternes, Theresa Wollny und Mona Zens organisierten diesen Gastvortrag unter der Leitung von Peter-Erwin Jansen (M.A. Philosophie). Foto: Melissa Gundlach

Mit dieser Frage beschäftigten sich die Studentinnen Vera Henderikx, Simone Ternes, Theresa Wollny und Mona Zens und organisierten unter der Leitung von Peter-Erwin Jansen (M.A. Philosophie) am 9. Juni 2015 an der Hochschule in Koblenz einen Gastvortrag zum Thema „Nähe und Distanz in professionsethischer Perspektive“ mit Prof. Dr. Gunzelin Schmid Noerr. Hintergrund der Ausführungen Schmid Noerrs, emeritierter Professor für Sozial-philosophie, Sozialethik und Anthropologie an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach und Herausgeber der gesammelten Schriften von Max Horkheimer (Frankfurter Schule), stellte seine jüngste Publikation „Ethik in der Sozialen Arbeit“ dar.

Die Veranstaltung wurde von Prof. Dr. Friesenhahn, Dekan des Fachbereichs Sozialwissenschaften, eröffnet und mit einer fragestellenden Behauptung eingeleitet: „Ist Soziale Arbeit machtlos, weil Sie der Moral verpflichtet ist? Müssen wir uns unmoralisch Verhalten, um machtvoll dafür zu sorgen, dass es unseren Klienten besser geht? Sollte man die Ethik hinter sich lassen und auf Moral verzichten?“ In der abschließenden Diskussion sollten diese Fragen erneut aufgegriffen werden.

Innerhalb der verschiedenen Praxisfelder sozialarbeiterischen Handelns, stehen nicht selten psychische, individuelle, soziale und ökonomische Probleme einer gelingenden und sinnvollen Lösung entgegen. Nur begrenzt stehen Ressourcen an Hilfsmöglichkeiten zur Verfügung. Im Gegensatz dazu besteht ein vielfältiger Anspruch auf Hilfe. Somit ist es auch eine ethische Frage, ob wir unsere Entscheidungen immer „richtig“ treffen und wie eine solche Entscheidung begründet wird. Vom moralischen Gefühl her wird jedem Menschen das Beste gewünscht. Die begrenzte Anzahl an Mitteln und die Notwendigkeit bei Entscheidungen eine gerechte Problemlösung zu finden, zwingt jedoch die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter eine Entscheidung unter rationalen Aspekten zu treffen.

Schmid Noerr leitete seinen Vortrag über „Nähe und Distanz in professionsethischer Perspektive“ mit dem Vergleich der mittelalterlichen „Bettelorden“ der Franziskaner und Dominikaner ein. Sie verkörperten zwei verschiedene Auffassungen des Helfens. Die Franziskaner handelten nach der spontanen Stimme des Gewissens, also nach dem moralischen Gefühl und agieren in einem „Naheverhältnis“. Jedoch können diese Gefühle auch in die Irre führen. Hier bestimme vielleicht eine „Mitleidethik“ a la Schopenhauer das Handeln. Die Dominikaner hingegen überprüften die Umstände, handelten nach rationalen Überlegungen und entscheiden in einem „Distanzverhältnis“. Dies stelle eine Perspektive dar, die sich näher an Kants „Vernunftethik“ orientiere. Welche Hilfe ist wie sinnvoll? Wird ein Mensch, der nicht arbeiten möchte, nicht durch Hilfemaßnahmen dazu bestärkt, weiterhin nichts zu tun? Diese unterschiedlichen Auffassungen zur Hilfe vermittelten die Haltungen von Nähe und Distanz.

Zahlreiche Beispiele aus der Praxis, die Schmid Noerr an selbst durchgeführten Interviews belegen konnte, bestätigen die oft schwierige durch Dilemmata-Situationen entstandene Problemstellung der beteiligten Parteien (Doppeltes Mandat). Einerseits soll der Klient als Mensch in seiner Lebenslage gesehen werden, das heißt ihn nicht auf „eine bloße Akte“ zu reduzieren. Andererseits werden die meisten Entscheidungen dennoch nach Aktenlage getroffen. Gefühle als Motiv des Helfens, also „Nähe“ spielen keine große Rolle. Der Klient erzählt sein „Leiden“ und die Sozialarbeiterinnen und – arbeiter müssen später argumentieren, warum z.B. eine stationäre Hilfemaßnahme notwendig war. Für die Leistungsentscheider sind jedoch Fakten, Dokumente und Aktenlagen von Relevanz. Einerseits wird verlangt, die Menschen als reine Fälle zu behandeln. Andererseits darf auch nicht zu viel geholfen werden, denn das Ziel der Sozialen Arbeit ist es die Selbstständigkeit zu fördern und nicht alle Probleme dem Klienten abzunehmen. Emotionale Nähe durch die Leiderfahrung der Klienten oder rationale Distanz durch Beurteilung der Fakten: was fördert eine gelingende Hilfe? Zunächst wird eine Beziehung zum Klienten aufgebaut, dabei darf nicht vergessen werden, dass die Soziale Arbeit auch eine Kontrollinstanz ist.

Es stellt sich daher die Frage, wie - zusammen mit dem Klienten – eine ethisch legitime Lösung angestrebt werden kann, wenn die Handlungsfreiheit der in der Sozialen Arbeit Tätigen durch enge, zum Beispiel ökonomische Grenzen eingeschränkt wird? Wie wird der Riss zwischen System und bedrohter Lebenswelt überbrückt, ohne dass dabei Nähe (moralisches Gefühl) und Distanz der Handelnden (Prüfung der Umstände, moralische Vernunft) aus dem Gleichgewicht geraten.

Gunzelin Schmid Noerr spricht von der Entmündigung des Klienten, wenn zum Beispiel ein Sozialarbeiter der Auffassung sei, besser zu wissen, was der Klient benötigt, als der Klient selbst. In diesem Zusammenhang sprach der Referent von einer Kultur der Achtsamkeit, die auch die Ressourcen der Klienten respektvoll fördern sollte genutzt werden. Hilfe ist nicht erzwingbar. Klienten müssen das Angebot von sich aus annehmen wollen.

Um Verstrickungen zwischen Nähe und Distanz zu verhindern, sei eine Trennung von Nah- und Distanzbeziehungen in der Lebenswelt nötig. Die professionelle Soziale Arbeit soll in die Persönlichkeitsgrenzen des Klienten eingreifen, ohne dabei selbst Teil davon zu werden. Die Distanz zum Beispiel zu einem Gewaltverbrecher ist notwendig, um professionell arbeiten zu können. Da sonst die Gefahr bestehe, dass der Mörder nur an seiner Tat beurteilt werde, nicht ganzheitlich als Mensch, dem eine Chance auf Resozialisierung zu stehe. Andererseits ist Nähe auch notwendig. Erzählt ein Klient, dass er Drogen konsumiert, wäre es die Pflicht der „Betreuenden“, dies den Behörden zu melden. Damit wären Beziehungsarbeit und Vertrauen zum Klienten zerstört. Aus diesem Dilemma könne das Vertrauen in die eigene Legitimität des Handelns der Professionellen in der Sozialen Arbeit eventuell herausführen. Nicht selten könne die begründete Sicht auf lang- oder kurzfristige Perspektiven eine Handlungsoption begründen helfen.

Die Soziale Arbeit dient als Überbrückung zwischen dem gesellschaftlichen System in dem wir leben und der Lebenswelt der Klienten. Nähe und Distanz können förderlich und behindernd zugleich sein, je nachdem wie die gesellschaftlichen und individuellen Ziele sind. Schmid Noerr argumentiert dafür, moralische Regeln kontextuell zu begründen. Die Sollensethik gibt dabei den ethischen, gesellschaftlich akzeptierten Rahmen vor. Die Strebensethik verkörpert das Gute als Handlungsziel – sowohl für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, als auch für das Gewollte und Erstrebte des Klienten – und wird durch neue Erfahrungen innerhalb der Hilfe ergänzt.

Der Gastvortrag Schmid Noerrs verdeutlichte, dass die in der sozialen Arbeit Tätigen nicht nur Nutzer und zugleich Gefangene der Institutionen sein müssen, wo es doch um die Entscheidung von Zielen und Zwecken für Menschen geht, die mehr sind als nur Klienten der Sozialen Arbeit. Es ist die Aufgabe jedes Einzelnen, sein Handeln zu reflektieren, argumentativ zu überprüfen, moralischen Vorstellungen und daraus resultierenden Handlungen Geltung zu verschaffen, die nicht nur durch „Sitte oder Recht“ Legalität genießen. Vielleicht sind es gut begründete Grauzonen, die den Handlungsraum der Sozialen Arbeit jenseits von „Nähe und Distanz“ auch unter ethischen Gesichtspunkten erweitern können.

 

 

 

 

Maximilian Szylobryt, Ricarda Duch